Donnerstag, 28. März 2024
Interview mit Julia Franck
Westen
📷 Thorsten Greve
Die Schriftstellerin Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin, bevor 1997 ihr literarisches Debüt „Der neue Koch“ erschien. Es folgten „Liebediener“ (1999), „Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen“ (2000) und im Jahr 2003 der Roman „Lagerfeuer“.

In „Lagerfeuer“ verarbeitet die Schriftstellerin auch ihre eigene Zeit im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde. Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern war sie dort Ende der 1970er Jahre für neun Monate untergebracht. Im Jahr 2007 erschien ihr Roman „Die Mittagsfrau“, für den sie 2007 den Deutschen Buchpreis erhielt und der zum Welterfolg wurde. 2011 erschien ihr jüngstes Werk „Rücken an Rücken“. Ihre Romane wurden in 36 Sprachen übersetzt.

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Welche Bedeutung hat Ihr Roman „Lagerfeuer“ für Sie?
Er war eine Wende innerhalb meines literarischen Schreibens, weil ich zum ersten Mal einen Ort erschrieb, den ich aus eigener Erfahrung kennengelernt hatte – sogar zu derselben Zeit, in der der Roman spielt, also Ende der 1970er Jahre. Diese Atmosphäre des Transits, des Provisorischen, des Gefangenseins in einer Art Ghetto, der absoluten Verunsicherung, war mir vertraut. Das habe ich als Kind erlebt. Damals sind wir nach vier Ausreiseanträgen vom Osten in den Westen übergesiedelt. Meine Mutter war mit vier Kindern im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde.
Wie lange waren Sie da?
Fast neun Monate. Wir kamen im Oktober an und blieben bis zum Sommer des Folgejahres. Mir ist vor allem die kalte Jahreszeit (dieser wahnsinnig schnee- und eisreiche Winter 1978/79) in Erinnerung. Der Winter war extrem deprimierend, weil die Atmosphäre im Lager eine der Ungewissheit, der Angst und des Misstrauens war.
Wie waren Sie dort untergebracht?
Wir teilten uns eine winzige Wohnung mit einer russischen Familie – das heißt auch eine Küche und ein Bad, das eher eine Art Klo mit Waschgelegenheit war. Wir wohnten in einem Zimmer von 15 oder 16 Quadratmetern und schliefen in Stockbetten. Diese erzwungene Intimität und die Unmöglichkeit, sich zurückzuziehen, hat mir damals zugesetzt. Abgesehen davon kamen wir ja mit der Idee vom „goldenen Westen“ und der Hoffnung auf Freiheit. Und die war an so einem Ort erstmal lange nicht zu spüren.
Wie haben Sie diese Erfahrungen in Ihren Roman „Lagerfeuer“ einfließen lassen?
Der Roman ist nicht aus Kindersicht geschrieben, sondern aus vier Erzählperspektiven: der von Nelly, einer alleinerziehenden Mutter mit Tochter und Sohn, der der Lagerbewohner Hans und Krystyna und der des CIA-Agenten John Bird. Die Spannung des Romans besteht vor allem aus ihren sehr unterschiedlichen Lebenswegen. Meine eigenen Erfahrungen spiegeln sich eher in der Stimmung. Man könnte auch sagen: Die Atmosphäre ist die Wahrheit dieses Romans.
Wie meinen Sie das?
Der Roman erzählt von der Enge und der Gefangenschaft, die die Menschen und Flüchtlinge, die im Lager zusammen kamen, bereits an ihren Herkunftsorten erlebt hatten. Das waren ja in der Regel die DDR, Polen, Russland, Rumänien oder Bulgarien. Diese Enge und Gefangenschaft enthält der Ort des Lagers in gewisser Weise auch, mikrokosmisch. Das Lager befindet sich mitten im Westen. Das ist ja das Absurde. Durch den Zaun ist da unmittelbar rundherum die Aussicht auf die ersehnte Freiheit. Das ähnelt übrigens den Erfahrungen heutiger Flüchtlinge. Die Erfahrung der Flucht und der Hoffnung auf ein neues Leben in Freiheit ist ja zeitlos.
Wie fühlte es sich an, das Schreiben des Drehbuchs für den Film an eine andere Autorin abzugeben?
Gut. Heide Schwochow, die das Drehbuch schrieb, hat das großartig gemacht. Sie ist vom Roman ausgehend in eine sehr eigene Entwicklung gekommen, die ganz überraschende Drehungen und Wendungen nahm. Auch hat sie, anders als im Roman, Nelly Senff zur Hauptfigur gemacht, was dem Film sehr gut tut. Ein Film braucht ein ganz anderes dramaturgisches Konzept als ein Roman, der aus der Introspektion heraus lebt.
Sie spielen in Westen sogar eine kleine Rolle. Wie kam es dazu?
Ich weiß gar nicht, wie wir auf die Idee kamen, aber ich fand es nicht so abwegig – zum Einen, weil ich aus einer Film-Familie komme, zum Anderen, weil ich von Kollegen weiß, dass sie auch hin und wieder in den Verfilmungen ihrer Romane einen kleinen Auftritt haben. So wird man als Autor Teil der Geschichte, ohne das Buch oder die Figuren zu verraten. Mir hat das Spaß gemacht! Besonders, weil ich dort in die Rolle einer französischen Geheimdienstmitarbeiterin schlüpfen durfte – in Nellys Gegenüber.

25.08.2022 | mz | Quelle: Senator Film
Kategorien: Magazin