Donnerstag, 10. Oktober 2024
Westen
Westen
Nelly und Alexej Senff warten zusammen mit Ihrem Gepäck auf die Abholung gen Grenze.
📷 Frank Dicks - © wild bunch | zero one film
Rund 4 Millionen DDR-Bürger verließen zwischen 1949 und 1990 ihre Heimat in Richtung BRD. Der Regisseur Christian Schwochow (NovemberkindDie Unsichtbare) stellte sich dem Thema, nach der Romanvorlage „Lagerfeuer“ von Julia Franck. Die Buchautorin selbst gehörte 1978 (im Alter von 8 Jahren) zu diesen Auswanderern in den „goldenen Westen“. Auch sie strandete zunächst in einem Notaufnahmelager und ihre Mutter wurde von den Alliierten, in Zeiten des kalten Krieges, wie ein russischer Spion verhört – ein Roman mit autobiografischem Hintergrund.

Christian Schwochows Film handelt von der promovierten Chemikerin Nelly Senff, die in den siebziger Jahren eine getürkte Ehe eingeht, um mit ihrem Sohn Alexej in die BRD ausreisen zu können. Ihre erste Station wird das Berliner Auffanglager Marienfelde. Für die Alliierten ist jeder Auswanderer erst einmal verdächtig und wird wie ein potentieller Spion behandelt.
Die Akte zu Nellys Leben, vor allem Ihre berufliche Karriere als Chemikerin, welche in der DDR als Geheimnisträger verstanden wurde, weckt das Interesse des Geheimdienstes. In endlosen Befragungen, die sich eher wie Verhöre anfühlen, muss sie Rechenschaft über ihr vergangenes Leben ablegen. Eigentlich wollte sie neu anfangen, in einem freien Land ohne Stasi. In der Enge des Notaufnahmelagers scheint es fast aussichtslos, auszubrechen.
Für die scheinbar dunklen Punkte ihrer Vergangenheit (der Autounfall ihres russischen Freundes, Alexejs Vater) interessiert sich der amerikanische Offizier, der die Befragungen durchführt, sehr. Als die beiden ein Verhältnis anfangen, erfährt Nelly, dass ihr Freund als Doppelspion vielleicht gar nicht wirklich tot ist und der amerikanische Geheimdienst in ihr seine Verbündete sieht. Dazu kommt noch der mysteriöse Hans, ein Lagergenosse, der ebenfalls Interesse an ihr zeigt und sich den Nöten des Sohnes sensibel annimmt. Nelly kann bald niemandem mehr trauen. Die Situation spitzt sich zu…
Regisseur Christian Schwochow kennt sich auf dem Gebiet der Psychodramen gut aus. Seine Protagonistin in Westen wagt den Neuanfang, muss allerdings feststellen, dass niemand neu anfangen kann ohne seine Vergangenheit mitzunehmen. Am Ende begreift Nelly, dass sie ihren Weg zielstrebig weitergehen muss, ohne zurückzublicken.

Ein Stück deutsche Geschichte wird hier aufgearbeitet, die so im Film noch nicht benannt wurde – eine Lebensveränderung, verknüpft mit großen Hoffnungen auf Freiheit und Gleichheit, in einem Land, wo zwar die gleiche Sprache gesprochen wird, das jedoch fremd ist, und vor allem, das nicht auf einen gewartet hat. Christian Schwochow faszinierte die Buchvorlage „Lagerfeuer“, die von Menschen handelt, die ein Leben verlassen und sich ein neues ersehnen, aber zwischen beiden irgendwie stecken bleiben – an einem merkwürdigen Zwischenort.
Das ist kein Film für große Popcorntüten und Colaorgien. Am Ende zeigt sich ein sehr dünner Hoffnungsschimmer am Horizont, und man wird aus dem Kino in einigermaßen guter Stimmung entlassen – ein toller Film über ein wichtiges Kapitel der Wiedervereinigung vor der Wiedervereinigung!

09.12.2022 | bh
Kategorien: Feature | Filme