Freitag, 26. April 2024
Interview mit Valeria Bruni Tedeschi
Forever young
© Neue Visionen
Valeria Bruni Tedeschi ist eine italienisch-französische Schauspielerin, Filmregisseurin, Drehbuchautorin und Sängerin, die als Tochter einer Turiner Industriellenfamilie ab ihrem neunten Lebensjahr in Frankreich aufgewachsen ist. Sie wurde an der Schauspielschule „Théâtre des Amandiers“ von Patrice Chéreau und Pierre Romans unterrichtet.
Ihre erste Hauptrolle spielte sie 1987 in dem Film Hôtel de France von Patrice Chéreau. Danach sah man sie in zahlreichen Filmen, die sie oft als zerbrechliche und gebrochene Frau zeigten. 2003 debütierte sie als Regisseurin mit der Komödie Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr…, die ihr „hartes Los“ als Industriellentochter ironisch thematisiert.
Ihre Erfahrungen am „Théâtre des Amandiers“ verarbeitet sie im autobiographisch gefärbten Spielfilm Forever young, ihrer siebenten Regiearbeit.

War Forever young ein Projekt, das Sie schon lange machen wollten oder kam Ihnen die Idee erst kürzlich?
Ein Freund von mir, Thierry de Peretti, hat mich auf die Idee zu diesem Film gebracht. Von jemandem auf eine Idee gebracht zu werden, ist wie ein wertvolles Geschenk zu erhalten. Ich habe die Idee mit meinen Schreibpartnerinnen Agnès de Sacy und Noémie Lvovsky besprochen, und sie erschien uns wie das Ei des Kolumbus als etwas völlig Offensichtliches.
Diese Schule war für mich ein grundlegendes Kapitel, sowohl in meiner Arbeit als auch in meinem Leben. Die Menschen, denen ich dort begegnete, und die Erfahrungen, die ich dort machte, haben mich bis heute tief geprägt. Einige Monate nachdem ich mit dem Schreiben begonnen hatte, schlug Noémie vor, auch Interviews mit ehemaligen Schülern zu führen. Ich kontaktierte einen nach dem anderen und wir hatten eine Art Klassentreffen.
Es war eine Freude. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass die Zeit gar nicht vergangen war. Sie wussten, dass der Film fiktiv sein würde, dass wir die Realität verändern würden und dass ihre Namen nicht auftauchen würden. Sie waren alle sehr großzügig mit ihren Geschichten. Diese Interviews waren sehr wertvoll.
Wie alle Ihre Filme basiert auch Forever young auf Ihren persönlichen Erfahrungen, die Sie jedoch durch Fiktion erweitern. Wir befinden uns immer an der Schnittstelle von Autobiografie und Imagination, eine Art Rekonstruktion: Sehen Sie das auch so?
Sagen wir einfach, dass das Fundament des Films aus Erinnerungen besteht, nicht nur aus meinen, sondern auch aus den Erinnerungen von Noémie und Agnès und in diesem
Fall aus denen anderer ehemaliger Schüler. Darüber hinaus haben wir uns jedoch völlige Freiheit gelassen, sie zu überarbeiten, zu fiktionalisieren, zu vermischen und wieder neu zu erfinden. All das macht unser Spielfeld aus. Der Fantasie muss die Möglichkeit gegeben werden, sich zu amüsieren, ohne Selbstzensur oder zu viele Tabus.
All Ihre Filme sind Familienfilme, lassen sich aber in zwei Kategorien aufteilen: die biologische und die künstlerische Familie.
Das stimmt, in fast allen Filmen ist die Familie ein wesentliches Thema. Selbst bei Drei Schwestern, den ich nach Tschechows Theaterstück für arte adaptiert habe, hatte ich das Gefühl, dass ich über meine eigene Familie spreche. In Forever young geht es um meine Arbeitsfamilie, meine Künstlerfamilie. Ich würde sogar behaupten, dass Chéreau ein bisschen wie mein Arbeitsvater ist.
Eine der Sequenzen des Films spielt in New York am Lee Strasberg Institute. Sie zeigen eine Verbindung zwischen dem Actors Studio und Les Amandiers. Worin besteht sie? Wie würden Sie Patrice Chéreaus Methode beschreiben?
Chéreau war modern. Gleich zu Beginn unserer Theaterausbildung schickte er uns an den Ort, der damals das Zentrum der modernen Schauspielkunst war: Amerika, wo einige Jahre zuvor unter Lee Strasberg Methodisches Schauspielen entstanden war. Strasbergs Methode war für mich wie ein Fenster, das sich zum Horizont hin öffnete. Sie war entscheidend für meine Arbeit als Schauspielerin.
Sandra Nkaké spielt eine Figur, die von Susan Batson inspiriert ist, einer der großen Lehrerinnen des Strasberg-Instituts, die Mitglied des Actors Studio ist, die ich dort kennen gelernt habe und mit der ich mein ganzes Leben lang gearbeitet habe. Strasbergs Methode ist einladend und auf eine gewisse Weise sanft. Chéreaus Regieführung war männlicher, brutaler.
Aber Chéreau und Strasberg strebten beide nach demselben Ziel: Wahrheit. Es fällt mir schwer, Chéreaus Art der Regie zusammenzufassen. Er hat viel nachgedacht und wirklich viele Stunden gearbeitet. Er verlangte auch von uns, dass wir hart arbeiten und viel von uns selbst geben. Wenn man das, was Patrice mir beigebracht hat, in Worte fassen könnte, dann wären diese Worte „anspruchsvoll“ und „unerbittlich“ – Worte, die mich mein ganzes Leben lang begleitet haben. Sie leiten mich auch heute noch, und wenn ich von ihnen abweiche, habe ich das Gefühl, meinen Beruf zu verraten.
Es ist Ihnen gelungen, die Anziehungskraft von Chéreau darzustellen, aber auch, wie anspruchsvoll und hart er sein konnte.
Wir haben die Namen der Studenten nicht beibehalten, aber nach reiflicher Überlegung haben wir beschlossen, für Patrice Chéreau und Pierre Romans die echten Namen zu verwenden. Pierre Romans ist zwar weniger bekannt, aber Chéreau und Romans sind legendär geworden. Sie haben sich im kollektiven Unterbewusstsein eingeprägt und wir waren nicht bereit, diese Legende aufzugeben. Wir wollten auch nicht aufgeben, wie unkonventionell die Schule war.
Die Theaterschule der Mandelbäume war nicht wie das klassische „Conservatoire“, sondern eher eine seltsame, alternative Schule. Diese beiden Männer waren für uns wie die Götter des Olymps. Sie waren extrem gutaussehend, jung und charismatisch. Immer, wenn sie auf den Fluren auftauchten, wurden alle sofort still.
Als wir mit dem Schreiben des Drehbuchs begannen, haben wir nur Chéreau bei der Arbeit beschrieben. Das Einzige, worüber wir zu schreiben wagten, waren die Proben. Wir  haben seine Notizen, seine Briefe und seine Interviews verwendet. Wir haben uns auf die Ausstellung gestützt, die Pascal Greggory auf der Grundlage seiner Schriften zusammengestellt hat. Wir haben versucht, uns der Intelligenz und Präzision von Patrice anzunähern, indem wir das verwendet haben, was er tatsächlich gesagt hat, manchmal Wort für Wort. Kurz gesagt: Anfangs war die Figur ein hart arbeitender, ernsthafter Mann, der zwar recht interessant, aber etwas theoretisch war und keine richtige Struktur hatte. Wir mussten ihn komplexer machen, ihm mehr Tiefe und Ecken und Kanten verleihen.
Was Pierre betrifft, so hat sich sein Charakter recht schnell herausgebildet. Ich hatte keine Schwierigkeiten, seine Widersprüche und Schwächen zu schildern. Bei Chéreau musste ich mich zwingen. Ich habe mir gesagt, dass er es gehasst hätte, ohne Fehler oder Schwächen dargestellt zu werden. Er mochte keine flachen Charaktere, sondern bevorzugte Figuren, die eine dunkle Seite haben. Er hat sich leidenschaftlich für die Menschen eingesetzt und hätte es gehasst, als Idol dargestellt zu werden. Respektlosigkeit war grundlegend für seine Filme und seine Art zu inszenieren. Aus Respekt vor ihm musste ich respektlos sein.
In dem Film sagt er so etwas wie: „Die Zeit, die man auf der Bühne verbringt, und ob man eine Haupt- oder Nebenrolle spielt, ist egal – was wirklich zählt, ist die Arbeit.“ Teilen Sie seine Vorstellung von der Arbeit eines Schauspielers?
Ja. Was zählt, ist die Konzentration. Für mich ist die Schauspielerei und das Schreiben eine Form der Meditation. Im Alltag habe ich das Gefühl, auseinandergezogen zu werden, nicht ganz bei der Sache zu sein. Wenn ich arbeite, fühle ich mich dagegen fokussierter. Egal, ob es sich um eine Hauptrolle oder eine kleine Rolle, einen Spielfilm oder einen Kurzfilm handelt – eine einfache Szene, das ist der Moment, in dem die Konzentration erreicht ist. Das ist so, wie wenn mein Sohn anfängt, etwas mit Legosteinen zu bauen.
Wenn ich ihm dabei zuschaue, denke ich mir immer: ‚Das ist genau wie mein Job!’ Das ist es, worum es in meinem Beruf geht und um nichts anderes: mit meinen Händen, meiner Vorstellungskraft, meinen Erinnerungen und meinen Gefühlen etwas zu bauen. Und der Moment, in dem ich genau das tue, ist ein Segen, ein Moment der Gnade. Vielleicht hat es etwas mit einer Form des Glaubens zu tun.
In Forever young gibt es wieder eine Seite Ihrer Arbeit, die ich besonders schätze, nämlich die Mischung aus Komödie und Tragödie, manchmal sogar in derselben Szene. Ich denke insbesondere an die Szene, in der die Studenten entdecken, dass jeder mit jedem geschlafen hat, was ziemlich lustig ist, aber dann mischt sich darin die Angst, dass sie sich vielleicht mit AIDS angesteckt haben, was schrecklich ist.
Meine Vorliebe für die Tragikomödie stammt wahrscheinlich von Chéreau. Er liebte es zu lachen. Wenn wir ihn bei den Proben oder Dreharbeiten manchmal lachen hörten, freuten wir uns, denn das war ein gutes Zeichen. Er war kein furchtbar ernster Mensch. Noémie ist eine weitere Person, die mich seit dem Schreiben von Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr… immer wieder zu Humor angestoßen hat. Ich glaube, dieser persönliche Geschmack kommt auch daher, dass ich Italienerin bin. Das italienische Kino ist das gehört zur DNS des italienischen Kinos. Ich brauche diese Mischung, ob ich nun spiele oder Regie führe. Und auch als Kinobesucherin, ich muss über unsere Existenz und unser Elend lachen können. Ich brauche das so dringend wie Sauerstoff.
Der tragischste Moment des Films ist der Tod von Etienne. Ist Etienne vielleicht eine Mischung aus einer Jugendliebe und deinem zu früh verstorbenen Bruder?
Nein, in Etienne steckt nicht viel von meinem Bruder. Die Figur wurde von jemandem aus meiner Jugend inspiriert, der nicht mehr da ist, der aber immer ein Teil von mir sein wird. Dank des Films kann ich über ihn sprechen und meine Erinnerungen werden mit Freude wieder lebendig.
Ich möchte ein paar Zeilen zitieren, die Noémie geschrieben hat und die genau diesen Gedanken auszudrücken scheinen: »Dank der Fiktion werden Menschen zu Figuren und dank der Schauspieler werden diese Figuren wieder zu Menschen. Und diese Menschen, die vor der Kamera lebendig und präsent sind, sorgen dafür, dass die Vergangenheit, die in uns ruht, nicht mumifiziert, sondern wieder lebendig und Teil der Gegenwart wird. Nur die Fiktion kann der Nostalgie die Erinnerung entreißen.«
Einer der schönsten Momente im Film ist dieser Austausch zwischen der Amandiers-Truppe aus den 1980er Jahren und der Gruppe von Schauspielern und Schauspielerinnen, die Sie für den Film versammelt haben, sozusagen eine Weitergabe von Talent und Geist.
Gemeinsam mit der Besetzungsdirektorin Marion Touitou stellten wir uns der Herausforderung, eine Truppe zusammenzustellen, die derjenigen ähnelt, die sie in den 1980er Jahren mit uns gebildet hatten. Wir haben nicht nach den Besten gesucht, sondern nach Persönlichkeitstypen. Und dann wollten wir auch Paare und eine Gruppe bilden.
Ich fühlte mich, als würde ich ein Orchester zusammenstellen. Die Tests dauerten für alle sehr lange. Manchmal testete ich eine Schauspielerin in zwei oder drei verschiedenen Rollen, wir testeten Pärchen oder Paare, ich tauschte sie aus und passte sie an, Junge-Mädchen, Junge-Junge, Mädchen-Mädchen, Sofiane und Noham, Nadia und Clara, Nadia und Vassili usw. Eines Tages war ich von der Leinwandpräsenz des Paares Nadia und Sofiane beeindruckt – ein echtes Filmpaar! Ich konnte sie nicht mehr loslassen.
Die Zeit, die das Besetzen in Anspruch genommen hat, hat es uns, den jungen Schauspielern und Schauspielerinnen und mir, ermöglicht, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Diese gemeinsame Sprache, die für jeden Film sehr spezifisch ist, ist für mich sehr wichtig. Ich musste verstehen, ob jeder von ihnen bereit ist, die Kontrolle über eine Szene zu verlieren. Ich musste auch spüren, ob sie Humor vertragen, sei es auf sie selbst oder die Situation bezogen. Als die endgültige Auswahl getroffen war, probten wir einen Monat lang weiter, um gemeinsam unsere eigene Methode zu finden. Das Wichtigste für mich ist heute, dass diese jungen Leute vom Publikum genauso geliebt werden wie von mir.
Ihr Film erinnert uns daran, dass die Generation der Amandiers auch die Generation der AIDS-Jahre war, als die Krankheit das Leben Tausender junger Menschen forderte.
Es war wirklich die Ära von Eros und Thanatos. Das haben wir gespürt, als wir das Drehbuch schrieben. Wir wollten die Energie der Jugend zeigen und gleichzeitig die Tragödie thematisieren. Im Film gibt es die ständige Anziehungskraft dieser beiden gegensätzlichen Kräfte, die Leben und Tod bedeuten.
Forever young verwischt die Grenzen zwischen Schauspiel und Leben, zwischen wirklich erlebten und inszenierten Gefühlen. Sind Sie in Ihrem Leben und Ihrer Erfahrung als Schauspielerin manchmal dieser Verwechslung von Realität und Schauspielerei zum Opfer gefallen?
Soweit ich mich erinnere, war es diese Verwirrung, zu der uns Chéreau und Romans ermutigten, als ob sie die Grenze zwischen Leben und Arbeit aufheben wollten. In der Tat verbrachten wir dort, in Nanterre, fast unsere gesamte Zeit, immer in die Arbeit vertieft. Auch heute noch genieße ich dieses Gefühl. Ich muss Grenzen auslöschen, aber ich kann jetzt aus einem Filmdreh heraus- oder von einer Theaterbühne herabtreten und in mein Leben zurückkehren. Es ist, als ob die Arbeit ein kleiner Planet wäre.
Früher bin ich immer auf ihm geblieben, und jetzt habe ich gelernt, mit einer kleinen Leiter auf die Erde zurückzukehren. Ich führe mein Leben weiter, kümmere mich um meine Kinder, und wenn es Zeit ist, wieder an die Arbeit zu gehen, klettere ich, tap tap tap, wieder auf meinen kleinen Planeten hinauf, den Planeten der Illusionen. Sagen wir es so: Heute ist es für mich einfacher geworden, mit der kleinen Leiter hin und her zu gehen.
Nadia Tereszkiewicz spielt die von Ihnen inspirierte Stella mit wunderbar grimmigem Gusto. Wie haben Sie sie gefunden?
Wir haben beide in Dominik Molls Die Verschwundene mitgespielt. Dort spielte sie meine Geliebte. Ich erinnere mich, dass ich beim Vorsprechen dabei war, und eine der jungen Frauen war Nadia. Sie bekam einen unkontrollierten Lachanfall und wurde rot. Obwohl ich meine Meinung nicht unbedingt teilen wollte, kam ich nicht umhin, Dominik zu sagen, dass ich sie für außergewöhnlich hielt.
Bei Forever young dachte ich zunächst, sie sei zu alt für die Rolle, aber Marion und ich stellten fest, dass alle Schauspielerinnen und Schauspieler, die uns interessierten, Mitte Zwanzig waren, und nicht zwanzig Jahre alt, wie wir ursprünglich geplant hatten. Sie hat wirklich hart gearbeitet, hat sich Filme und Dokumentationen angesehen, Texte gelesen, mit mir und den anderen geprobt und auch ihr eigenes Ding gemacht, das sie nicht mit mir geteilt hat.
Eines Tages, gegen Ende der Probenzeit, hat sich etwas ergeben. Irgendetwas war mit ihr geschehen und sie hatte die Richtung verstanden, in die ich sie führen wollte. Sie akzeptierte die Möglichkeit, sich fallen zu lassen, die Kontrolle zu verlieren und etwas zu erleben, womit sie nicht gerechnet hatte. Ich war erstaunt. Ich spürte, dass es ein Vorher und ein Nachher in diesem speziellen Moment gab. Und seitdem hat sie nie aufgehört, mich zu verblüffen.
Wie haben Sie Sofiane Bennacer gefunden, der die ergreifende Rolle des Etienne spielt?
Stanislas Nordey hat mir von Sofiane erzählt. Wir nahmen Kontakt zu ihm auf, und er schickte uns, Marion Touitou und mir, ein Video zu. Zu Beginn des Videos stellte er sich vor, nannte seinen Namen, erzählte ein wenig über sich selbst und redete dann weiter, und nach einer Weile fragten Marion und ich uns: „Spricht er noch mit seinen eigenen Worten oder ist das ein Ausschnitt aus einem Theaterstück?“ Er war unmerklich von seinen eigenen Worten zu einem Monolog von Bernard-Marie Koltès übergegangen, ohne dass wir es bemerkten.
Die Sprache von Koltès war ihm seltsam vertraut. Er trug sie mit einer Präzision und Tiefe vor, die wirklich beeindruckend war. Ich dachte sofort, dass er die Bandbreite, das Charisma und die Tiefe eines großen Schauspielers hat. Sofiane hat eine Energie, die anders ist als die, die ich mir für die Rolle vorgestellt hatte. Er hat Etienne an einen anderen Ort gebracht, einen innerlicheren Ort. Er spielte die Figur weniger kantig als ich es mir vorgestellt hatte. Aber es hat mich nicht gestört, ein wenig von meiner ursprünglichen Idee abzuweichen.
Gibt es einen Film, der Sie besonders für Forever young inspiriert hat?
Es gibt natürlich mehrere, aber eines ist besonders wichtig: Jerry Schatzbergs Panik im Needle Park. Wir haben während der Proben eine Vorführung des Films organisiert. Ich wollte den jungen Schauspielern und Schauspielerinnen die Wahrhaftigkeit in Al Pacinos und Kitty Winns Schauspiel zeigen. Ich wollte ihnen auch diese Welt, diese Zeit und diese Jugend zeigen. Und ich wollte vor allem, dass Nadia und Sofiane die Verbindung zwischen Liebe und Drogen verstehen. Drogen sind wie eine dritte Person in einer Liebesbeziehung.
Ein großer Unterschied zwischen meiner Geschichte und Schatzbergs ist, dass Etienne und Stella diese Leidenschaft für das Theater und die Schauspielerei haben, während die von Pacino und Winn gespielten Figuren keine Leidenschaft haben, außer der Liebe, die sie miteinander verbindet.
Clara Bretheau, die im Film Adèle spielt, bringt eine schöne Skurrilität in den Film. Steckt ein bisschen von Eva Ionesco in ihrer Figur?
Diese Figur ist tatsächlich ein wenig an Eva angelehnt. Etwas von ihrer Frechheit, Freiheit und Schönheit stammt von Eva, aber das ist auch schon alles. Wir haben sie erfunden, indem wir verschiedene Erinnerungen und Charaktere kombiniert haben, was großen Spaß gemacht hat. Was Stella, Etienne und die anderen angeht, so haben wir sie anders entwickelt.
In der Drehbuchphase war Adèle bereits Adèle und nicht mehr Eva. Und dann hat Clara, die eine starke Persönlichkeit und einen ausgeprägten Sinn für Humor hat, sich die Figur völlig zu eigen gemacht. Was ich mit dieser Figur und mit einigen anderen Figuren, die Schüler der Theaterschule sind, erzählen wollte, war, dass sie trotz ihres jungen Alters von der Härte des Lebens nicht verschont geblieben waren. Und dennoch hat sie das nicht daran gehindert, sich die Unschuld, Energie und Unbefangenheit von Menschen in ihren Zwanzigern zu bewahren.
Welche Rolle spielen Ihre Schreibpartnerinnen Noémie Lvovsky und Agnès de Sacy bei Ihrer Arbeit?
Ohne sie wäre ich nicht in der Lage zu schreiben. Ich lernte Noémie kennen, als ich vor über dreißig Jahren die Theaterschule der Mandelbäume abschloss. Dass sie mich so gut kennt, ist für unsere Arbeit sehr wertvoll. Beide unterstützen mich mit ihrem Talent und mit ihrer Freundschaft. Wir arbeiten selten zu dritt, wir haben Sitzungen zu zweit und ab und zu beurteilen wir zu dritt die Dinge.
Für Forever young habe ich zwei Jahre lang zwischen den beiden hin und her gewechselt. Wir haben viele Versionen durchgespielt, bis wir das endgültige Ergebnis hatten. Es ist mir wichtig zu sagen, dass es in diesem Film sehr wenig Improvisation gibt. Louis Garrel hat in seinen Szene als Chéreau viel improvisiert, um die Szenen lebensechter, lebendiger und schärfer zu machen. Aber abgesehen davon ist es ein Film, der vollständig und gründlich geschrieben wurde.
Ich musste beim Schreiben alles hinterfragen und erforschen: die Beziehung zwischen Chéreau und Romans, die Regieanweisungen für Platonov, die Hintergrundgeschichte jedes Schülers, wie sich Drogen in die Schule einschleichen, die Angst vor AIDS, der Tod, das Leben nach all dem. Außerdem mussten wir während des Schreibens und später bei der Überarbeitung ständig zwischen der Liebesgeschichte und der Geschichte der Gruppe hin- und herwechseln, das eine und das andere abfragen, von dem einen zum anderen hin- und herpendeln. Dieser Wechsel, diese Balance, ist das entscheidende innere Gleichgewicht des Films.
Woher kommt die Figur der abgelehnten Bewerberin, die in der Caféteria des Theaters arbeitet? Hat diese Person wirklich existiert?
Es ist eine völlig fiktive Figur. Ich habe sie mir erst kurz vor den Dreharbeiten ausgedacht. Ein befreundeter Regisseur, Yann Coridian, brachte mich auf die Idee, die Figur in der Caféteria des Theaters arbeiten zu lassen. Das gab mir auch die Möglichkeit, die Perspektive eines Außenstehenden einzunehmen und zu erzählen, wie die Menschen diesen Ort damals sahen, was er in der kollektiven Vorstellung auslöste.
In den Jahren 1985 bis 1990 war das Amandiers-Theater das Epizentrum der kulturellen Welt. Die größten Autoren, die größten Regisseure, die größten Schauspieler, die größten europäischen Talente der damaligen Zeit waren bei der Pressekonferenz 1985 anwesend. Koltès aß in der Caféteria zu Mittag, Catherine Deneuve kam, um die Arbeit der Studenten zu sehen. Bei der Lektüre des Drehbuchs konnte man nicht so recht erahnen, dass diese beeindruckende Wirkung nach außen dringt.
Diese kleine Rolle, die Kellnerin, die ich mir in letzter Minute ausgedacht habe, hat es mir ermöglicht, all dies in wenigen Sätzen zu erzählen und Suzanne Lindon zu filmen, die dem Film an Stellen, an denen die Erzählung besonders schwer ist, einen Hauch von Humor verleiht.
Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um über Louis Garrel zu sprechen, der die schwierige Aufgabe hatte, Chéreau zu spielen, und der diese Aufgabe hervorragend meistert.
An dem Tag, als Patrice Chéreau starb, saß ich mit Louis im Zug und er sagte: »Es ist, als ob wir den Kapitän unseres Schiffes verlieren würden.« In der Tat war Chéreau ein Kapitän, ein Führer, ein Leuchtturm, nicht nur künstlerisch, sondern auch intellektuell und politisch. Ich möchte nicht für ihn sprechen, aber ich glaube, dass Louis, obwohl er nicht viel Zeit mit ihm verbrachte, eine geheime und intime Beziehung zu Chéreau hatte, und dass mein Angebot, ihm die Rolle zu geben, ihn sofort berührte. Er hat sein eigenes Ding daraus gemacht, und ich habe ihm dabei freie Hand gelassen. Wir haben uns nur in einem Punkt gestritten.
Eines Abends, während der Proben, rief ich ihn an und fragte: »Louis, wo sind die kleinen Zigarren?«»Die kleinen Zigarren sind mir egal, ich habe mit dem Rauchen aufgehört und werde für einen Film nicht wieder damit anfangen«, antwortete er. »Aber die kleinen Zigarren von Chéreau sind wie die Madeleines von Proust, ich mag es nicht, sie nicht zu haben.« Er blieb hartnäckig und wir stritten uns am Telefon. Aber am nächsten Tag tauchte er mit den kleinen Zigarren auf.
Abgesehen davon habe ich ihn nicht gefragt, wie er Chéreau spielen sollte. Ich habe ihm nur zugesehen, wie er es gemacht hat, wie er Vorschläge gemacht und die Jüngeren angeleitet hat. Ich habe ihm einfach bei der Arbeit zugesehen. Sein Humor, der einzigartig ist und den ich unwiderstehlich finde, machte alle seine Szenen sehr überraschend und persönlich. Er wollte nicht imitieren, sondern vermitteln, Chéreau kanalisieren.
Können Sie uns etwas über Micha Lescot erzählen, der Pierre Romans spielt?
Micha ist einer unserer größten Theaterschauspieler. Ich wollte, dass er im Film so frei ist wie auf der Bühne. So frei und so schön. Romans war sehr attraktiv, charismatisch und hypnotisierend. Micha, der mit seiner eigenen Version von Romans arbeitet, hat uns alle während der Dreharbeiten verzaubert. Ich wollte auch das Paar filmen, das Louis und  Micha zusammen bilden. Dieses Paar hatte ich auf der Bühne gesehen, als sie mit Luc Bondy arbeiteten, weil sie zu seiner Truppe gehörten. Es war sehr beeindruckend, sie zusammen auf der Bühne zu sehen, und als ich die Schauspieler für den Film besetzt habe, tauchte dieses Bild wieder in meinem Kopf auf. Ich dachte, dass sie ein wunderbares Leinwandpaar abgeben würden.
Eines Tages während der Dreharbeiten hatte der Bühnenbildner im Büro von Pierre Romans tonnenweise Poster von Luc Bondys Stücken aufgehängt. Da wurde mir klar, dass es im Unterbewusstsein des Films noch eine weitere Figur gab: Luc Bondy. Ich glaube fest daran, dass Filme ein Unterbewusstsein haben, mehr oder weniger sichtbare Verbindungen, die einen Film durchziehen, ihm Tiefe verleihen und etwas, mit dem sich das Publikum identifizieren kann. All diese unsichtbaren Zusammenhänge treiben mir die Tränen in die Augen. Ich mache Filme, um all die Geister zu beschwören, die in mir lebendig sind.
Ich habe den Eindruck, dass Sie und Ihr Kameramann Julien Poupard sich bemüht haben, ganz nah an den Schauspielern und Schauspielerinnen zu sein, so als ob Sie ihren Atem spüren konnten. Wie war es, mit ihm zu arbeiten?
Julien gefiel das Drehbuch. Er hat die Besetzung, all diese neuen Gesichter sofort und mit Begeisterung in sein Herz geschlossen. Seine Art, sie zu sehen, war fast mütterlich. Er küsste und umarmte alle, und seine Art, sie zu filmen, war so kraftvoll und natürlich, dass ich das Gefühl hatte, ich müsse ihn einfach machen lassen, was er will. Ich habe mich gefreut, ihm bei der Arbeit zuzusehen. Es war eine wunderbare Begegnung.
Lassen Sie uns nun über den Schnittprozess mit Anne Weil sprechen. Haben Sie eine bestimmte Idee im Kopf oder arbeiten Sie intuitiv?
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um über all die Menschen zu sprechen, mit denen ich seit langem zusammenarbeite und die für mich sehr wichtig sind: Olivier Genet – erster Regieassistent, Emmanuelle Duplay – Bühnenbildnerin, Caroline de Vivaise – Kostümbildnerin, Caroline Deruas-Péano – „Continuity Girl“ für meine Filme, die auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, Emmanuel Croset – Tontechniker, und all die Leute, deren Talent ich regelmäßig in Anspruch nehme.
Einer der Gründe, warum ich Filme mache, ist die Möglichkeit, mit all diesen Menschen wieder zu arbeiten. Ich verbringe auch sehr viel Zeit mit Anne Weil. Der Schnitt ist wie eine Neufassung des Films. Ich glaube, es war wieder Truffaut, der sagte, dass die Dreharbeiten das Drehbuch korrigieren, und der Schnitt die Dreharbeiten. Anne hinterfragt jede Einstellung, jedes Bild. Sie hinterfragt unermüdlich den Sinn des Films, die Wahrhaftigkeit der Schauspieler und den Rhythmus. Sie ist brillant. Ich genieße es sehr, mit ihr zu arbeiten und Zeit mit ihr zu verbringen. Sie ist eine Freundin.
Was ist mit der Filmmusik, die klassische Musik mit Popmusik und Rock‘n‘Roll-Klassikern mischt? War das die Musik, die Sie hörten, als Sie bei den Amandiers waren?
Einige der Stücke gehören zu meinen Obsessionen. „Me & Bobbie McGee“ von Janis Joplin ist zum Beispiel ein Lied, das ich mein ganzes Leben lang gehört habe. Die Zeile „Freedom is just another word for nothin‘ left to lose“ ist für mich Kult. In dem Film gibt es viele Lieder aus dieser Zeit, die sofort eine Welle von Gefühlen auslösen. Und dann gibt es auch viel klassische Musik – Liszt, Bach, Vivaldi. Das ist die Musik meiner Kindheit.
Dies ist Ihr zweiter Film mit den Produzenten Alexandra Henochsberg und Patrick Sobelman, ganz zu schweigen von der TV-Verfilmung von Drei Schwestern. Entwickelt sich da eine Freundschaft?
Sie sind ein Produzentenduo, das für meine Arbeit seit Drei Schwestern wichtig geworden ist. Sie akzeptieren mich so wie ich bin und geben mir Struktur. Ich habe das Gefühl, dass sie mir vertrauen, auch wenn sie einem Projekt manchmal bestimmte Einschränkungen oder Zwänge auferlegen. Manchmal sind wir nicht einer Meinung oder streiten sogar, aber das ist alles Teil des kreativen Prozesses, und es herrscht ein tiefes gegenseitiges Vertrauen. Was im Leben wirklich zählt, ist zu arbeiten, zu reden, zu lachen, zu essen und eine gute Zeit mit den Menschen zu haben, mit denen man gerne zusammen ist. Alexandra und Patrick sind, wie all die anderen Menschen, die ich erwähnt habe, Menschen, für die ich gerne morgens aufstehe. Es ist wichtig, dass man bei all dem Freude hat.
 

23.08.2023 | mz | Quelle: Neue Visionen
Kategorien: Magazin