Donnerstag, 10. Oktober 2024
Interview mit Sophie Lellouche
Paris-Manhattan
© SND
Sophie Lellouche begann 1999, nach diversen Praktika an Filmsets, darunter bei der Regielegende Claude Lelouch, ihre Filmkarriere mit dem Kurzfilm Dieu, que la Nature est bien faite! und inszenierte im Frühjahr/Sommer 2011 ihren ersten abendfüllenden Spielfilm, Paris-Manhattan, mit Alice Taglioni und Patrick Bruel in den Hauptrollen, als auch Woody Allen in einer Gastrolle, wie man das so schön sagt…
Woher rührt Ihre Lust am Filmemachen?
Vermutlich aus meiner Kindheit. Ich dachte mir schon immer gern Geschichten aus und fand es großartig, wenn andere mir Geschichten erzählten. Dass ich mich so fürs Fiktive begeistere, hat sicher auch mit meinem schwierigen Verhältnis zur Realität zu tun. Filme zu drehen, bedeutet doch, die Wirklichkeit und den Alltag abschütteln zu wollen. Obwohl sich meine Lust aufs Kino schon früh entwickelte, dauerte es sehr lange, bis ich endlich bereit war.
1999 drehte ich einen Kurzfilm mit Gad Elmaleh. Danach vergingen noch einmal zehn Jahre, bevor ich den Mut hatte, einen abendfüllenden Spielfilm in Angriff zu nehmen. Dass ich so spät debütiere, liegt ein wenig an mangelndem Selbstvertrauen – etwas, das ich übrigens in meinem Film thematisiere. Die Ehrfurcht vor meinen Vorbildern war so groß, dass ich mir nicht zutraute, eine Geschichte schreiben zu können, die der Filmkunst würdig sein würde. Erst an dem Tag, an dem ich mir eine Figur ausdachte, die genau wie ich von ihren Vorbildern erdrückt wird, bewegte sich endlich etwas.
In der Fiktion findet Ihre Heldin all die Antworten, die das wahre Leben ihr schuldig bleibt. Und ihre Lebensphilosophie ist stark von Woody Allen beeinflusst…
Ich liebe die Welt des Woody Allen! Seine Tiefgründigkeit schließt weder Humor noch Poesie oder Magie aus. In meinem Film spricht Alice mit einem Poster von Woody Allen, und er antwortet ihr tatsächlich. Wo endet der Traum, wo beginnt die Wirklichkeit? Ich finde es großartig, die Realität magisch aufzuladen. Dennoch ähnelt Alice mir nicht, und ihre Geschichte ist auch nicht autobiografisch. Ich habe sie zwar erschaffen, aber sie führt ihr eigenes Leben und gehört mir nicht. Vielleicht hört sich das jetzt komisch an, aber jeder Autor weiß, dass fiktive Figuren beim Schreiben eine Art Eigenleben entwickeln und man ihr Schicksal nicht mehr beeinflussen, sondern nur noch beobachten kann.
Woher haben Sie den Mut genommen, endlich loszulegen?
Da kamen zwei Dinge zusammen: die Angst, meine Zeit zu vergeuden, und die Erkenntnis, dass jeder Regisseur einen ganz individuellen Parcours zurückgelegt hat, bevor er zum Film fand. Als ich endlich begriff, dass es nicht nur einen Weg gibt, verlor ich meine Hemmungen. Ich las viel und ging regelmäßig in die Cinémathèque. So erkannte ich, wie unterschiedlich die einzelnen Biografien sind und dass viele Regisseure nicht mehr ganz jung waren, als sie anfingen – Maurice Pialat und Gérard Oury zum Beispiel, die Vorbilder für mich wurden.
Von Claude Lelouch lernte ich ebenfalls eine Menge, denn er war der erste, mit dem ich zusammenarbeiten durfte. Ich brauchte Zeit und musste Erfahrungen sammeln, um reif zu werden. Woody Allen hat einmal gesagt: »Talent ist Glückssache. Was im Leben zählt, ist Mut.« Dieser Satz beeindruckte mich so, dass ich ihn in meinen Film eingebaut habe.
Wie sind Sie beim Schreiben der Geschichte vorgegangen?
Obwohl die Komödie kein einfaches Genre ist, ist es das Genre, das mir am meisten liegt. Die Liebesgeschichte, die man im Rahmen einer Komödie erzählt, kann sowohl zum Träumen als auch zum Lachen anregen. Die von mir bewunderten Regisseure – Lubitsch, Wilder, Capra, aber auch Rappeneau, Lelouch und Oury haben alle etwas gemeinsam: Es gelingt ihnen, mit den Mitteln der Komödie tiefgründige menschliche Beziehungen zu beschreiben.
Diesem Ansatz fühle ich mich stark verbunden. Die Komödie streift ja eigentlich ständig die Tragödie, es kommt auf die Dosierung an. Man bewegt sich andauernd auf der Kippe. Alice könnte ohne weiteres schizophren sein oder völlig asozial. Doch obwohl sie in ihrer eigenen Welt gefangen ist, handelt es sich um eine positive Heldin, die das Leben bejaht.
Obwohl Sie die Geschichte eines Paares erzählen, handelt es sich eigentlich um eine Ménage-à-Trois…
Stimmt, die Geschichte dreht sich um drei Figuren: Alice, Victor und Woody Allen auf seinem Poster. Was Alice mit diesem Poster verbindet, könnte man eine echte Beziehung nennen. Woody ist zwar ihr Mentor, aber in Wahrheit natürlich nur eine Projektion ihrer selbst. Wenn sie sich bestimmte Fragen stellt, geschieht das immer vor Woodys Poster, aber über die Antworten entscheidet selbstverständlich Alice. Rat von ihm zu erhoffen, wäre müßig, doch in seiner Gegenwart gelingt es ihr, jene Fragen zu formulieren, die ihr dabei helfen, im Leben voranzukommen und ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Victor ist dann schlussendlich derjenige, der Alice ganz in die Realität zurückholt.
Warum ausgerechnet Woody Allen?
Weil sein Universum extrem vielschichtig ist. Die Integrität, die er seinen Figuren verleiht, sieht Alice in ihm gespiegelt. Was mich betrifft, und das ist wirklich die einzige Gemeinsamkeit mit Alice, so wurde ich stark von Woody Allen beeinflusst. Hannah und ihre Schwestern war der erste Film von ihm, den ich sah. Als ich aus dem Kino kam, ahnte ich sofort, welchen Einfluss er auf mein Leben haben würde. Nach diesem Film habe ich mir alle anderen angesehen.
Woody Allen wurde nicht nur einer meiner Lieblingsregisseure, er ist der einzige Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler in einer Person, der als Figur für meinen Film in Frage kam. Sein Werk ist so vielfältig, dass ich Alices Lebensphilosophie ohne weiteres darin stibitzen konnte. Während des Drehbuchschreibens ließ ich mich von seinem Esprit und seinen Dialogen inspirieren.
Er thematisiert ja all das, was das Leben ausmacht – Liebe, Tod, unsere Beziehung zu Gott, und von Film zu Film entwickelt er seine Ansichten weiter, bietet immer wieder neue, unterschiedliche Blickwinkel. Mit jedem weiteren Film offenbart er ein wenig mehr von seinem Humanismus. Das Allen-Poster in meinem Film soll die Zweifel symbolisieren, die Alice täglich beschäftigen. Bei Woody Allen findet sie immer eine Antwort, auch wenn es sich nicht um absolute, unumstößliche Wahrheiten handelt. Dadurch behält Alice ihren freien Willen.
Und mitten in das funktionierende, wenn auch leicht weltfremde Leben von Alice platzt Victor hinein…
Auf ihn gewartet hat sie nicht! Er ist ein bisschen verrückt, aber eine ehrliche Haut, steht mit beiden Beinen fest auf der Erde und besitzt ein großes Herz. Was ihn auszeichnet, auch wenn er es nicht hören will, ist Großzügigkeit – immerhin erträgt er Alices Launen und ihre Spleens, ohne über sie zu urteilen. Victor ist viel reifer, erfahrener und letztlich auch weiser als Alice.
Auf der anderen Seite lässt er sich von ihrem Freiheitsdrang anstecken – er, der sich eher pessimistisch und fatalistisch gibt. Sie fasziniert ihn, denn Dinge, bei denen er versagte, hat sie gemeistert. Um seiner Familie zu entkommen, hat er sämtliche Brücken abgebrochen, ihr hingegen gelingt es, indem sie sich lediglich ein wenig von ihr distanziert. Sie bringt ihm bei, „dass man durchaus Teil einer Gruppe sein kann, ohne ihr wirklich anzugehören“. Alice ist normal und zugleich authentisch, und diese Authentizität macht ihre Originalität aus. Victor hilft ihr auf dem Weg ins wahre Leben, und sie hilft ihm, authentischer zu werden.
Wie sind Sie bei der Wahl Ihrer Schauspieler vorgegangen?
Eigentlich legte ich keinen Wert auf Stars, sondern wollte Darsteller mit Charakter – Alice und Patrick sind in Frankreich allerdings sehr bekannt. Es ist schon ein paar Jahre her, da schrieb ich Alice einen Brief, um ihr zu sagen, wie gern ich mit ihr arbeiten würde. Ich mag sie und ihre Ausstrahlung. Mit ihrer Schönheit wertet sie das Paar glamourös extrem auf – das ist sehr wichtig, damit das Publikum mitzieht.
Alice ist eine großartige Schauspielerin, und ihre Dynamik war genau das, was mir für die Rolle vorschwebte. Sie kann ihrem Partner Saures geben und büßt trotzdem nicht an Charme ein. Das gibt es nur sehr selten. Irgendwann fiel mir auf, dass Patrick und Alice Musiker sind. Weil Alice dieses Gefühl für Rhythmus und Tempo in der Musik besitzt, ist sie fast zwangsläufig auch eine gute Komödiantin. Ich brauchte ihre energiegeladene Nervosität, dieses Gespür fürs Komödiantische, diesen Witz – und das möglichst in Verbindung mit großer Schönheit und einer moralischen Persönlichkeit.
Was die Wahl des Darstellers für Victor betrifft, habe ich versucht, mich in die Zuschauerinnen hineinzuversetzen und mir vorzustellen, wen sie gern im Kino sehen würden. Ich war schon immer ein Riesenfan von Patrick, liebe seine Charme, seinen Humor und sein Talent. Dass ihm eine Frau widerstehen könnte, ist unvorstellbar. Deshalb fand ich es ausgesprochen spannend, ihn mit einer Heldin zusammenzubringen, die es ihm alles andere als leicht macht. Patrick und Alice sind ein Paar, das mich zum Träumen bringt – und das war ganz wichtig für mich.
Im Film begegnet man weiteren Paaren. Da wären zum Beispiel Alices Eltern oder das Paar, das Alice und ihre Schwester bilden…
Die Familie von Alice ist total neurotisch und fürchtet sich vor allem. Vater, Mutter und Schwester sagen ja selbst, dass sie sich ständig Sorgen machen und aus Liebe zu allem fähig sind. Für sie zählt allein das Glück und die Sicherheit ihrer Kinder – was häufig dazu führt, dass sie sich im falschen Augenblick Sorgen machen.
Die Eltern von Alice sind sehr wichtig für unsere Geschichte. Dargestellt werden sie von Michel Aumont und Marie-Christine Adam. Michel hat etwas sehr Menschliches – wie ein desillusionierter Vater, der ein bisschen verrückt ist. Dass dieser großartige Darsteller bereit war, in einem Debütfilm mitzuspielen, empfand ich als ein echtes Geschenk. Die von ihm gespielte Figur ist sehr wichtig, denn immerhin bringt der Vater Victor mit seiner Tochter zusammen.
Er ist der Patriarch, bei Tisch wie im Leben. Abgesehen davon, dass er seine Tochter unter die Haube bringen will und möchte, dass sie glücklich ist, erkennt er frühzeitig, dass Victor der Richtige ist. An seiner Seite spielt Marie-Christine Adam eine Mutter, die, vom Leben gebeutelt und voller Zweifel, nur das Beste will, aber dennoch häufig scheitert.
Dass Marine Delterme die Rolle der Schwester übernahm, freute mich. Ich verfolge ihre Karriere seit längerem, und sie war eine Zeit lang ein wenig von der Bildfläche verschwunden. Sie fehlte mir. Auch sie besitzt diese ganz besondere Energie. Außerdem strahlt sie etwas durch und durch Feminines aus. Zu wissen, wie man sich gibt, frisiert, kleidet – das scheint ihr im Film wie im Leben ganz leicht zu fallen.
Für jemanden, der Angst hatte, Regie zu führen, waren Sie ganz schön mutig, als Sie den großen Woody Allen fragten, ob er in Ihrem Film mitspielen will…
Woody Allen spielt zwar in meinem Film mit, aber inszeniert habe ich ihn nicht! Ich wusste von Anfang an, wie toll es wäre, den echten Woody Allen dabeizuhaben. Also habe ich ihm mein Projekt einfach vorgestellt. Seine Präsenz in meinem Film hat etwas Unwirkliches – als würde man eine Tür öffnen und da steht er plötzlich! Woody steigt in eine wartende Limousine ein, kommt dann aber wieder zurück. Ist doch magisch, oder?
Weil in vielen seiner Filme das Magische eine zentrale Rolle spielt und er früher als Zauberer gearbeitet hat, rechnete ich mir gute Chancen aus, dass er mein Angebot annimmt… Ach, ich wollte einfach glauben, dass es klappt! Nun spielen in meinem ersten Film Alice, Patrick und Woody Allen mit, und das ist ein Glück, das ich selbst noch nicht fassen kann. Jedesmal, wenn ich den Film sehe, bin ich ganz begeistert von den Drei.
Sie inszenieren im Stil einer glamourösen Komödie. Können Sie uns sagen, welche Gedanken Sie sich dazu machten?
Worauf es mir in erster Linie ankam, war diese Pariser Atmosphäre einzufangen – nicht mit typischen Postkartenansichten, sondern mit Schauplätzen, die den einzigartigen Charme dieser Stadt vermitteln. Ich wollte Ruhe und Poesie vermitteln, denn Liebespaare wie Alice und Victor sind ja quasi allein auf der Welt. Wir haben häufig Totale benutzt, manchmal sogar die Supertotale. Ich wollte nicht, dass die beiden eingeengt wirken, denn was Victor Alice bietet, ist schließlich die Freiheit, aus tausend möglichen Leben eines auszuwählen.
Die Szenen mit Vincent, ihrem zweiten Verehrer, habe ich häufig im Schuss-Gegenschuss-Verfahren gedreht, mit nahen Einstellungen, denn er versucht ja, Alice einzuengen. Mit der Inszenierung habe ich mich intensiv beschäftigt. Selbst statische Einstellungen zeichnen sich durch eine gewisse innere Dynamik aus. Ich wollte, dass die Kamera hauptsächlich dazu dient, dem Zuschauer einen privilegierten Sichtplatz auf das Geschehen zu bieten. Der Rahmen, in dem sich die Figuren bewegen, musste auch stimmen.
Wir sahen uns mindestens dreißig Apotheken an, bevor wir uns für eine entschieden, die als Alices Apotheke in Frage kam. Mit ihren Holzvertäfelungen und den großen Gläsern wirkt sie sehr authentisch – die Bonbons und DVDs wurden allerdings von mir hinzugefügt! Ich wollte, dass die Apotheke wie der „Laden an der Ecke” wirkt, wo der Ladeninhaber wirklich noch für seine Kunden da ist.
Wissen Sie noch, welche Szene Sie als erstes gedreht haben?
Der Drehplan wollte es, dass wir mit den Szenen mit Woody Allen vor dem Hotel Plaza Athénée anfangen mussten. Seltsamerweise war ich überhaupt nicht gestresst. Dabei handelte es sich um meinen allerersten Drehtag überhaupt, und das gleich mit Alice Taglioni, Patrick Bruel und Woody Allen am Set! Alle waren sehr professionell und mitfühlend zugleich. Wir hatten nur eine Stunde Zeit für die Szenen mit Woody Allen. Meinem Kameramann Laurent Machuel und dem gesamten Team ist es zu verdanken, dass alles wie am Schnürchen klappte. Woody Allen war fast schon peinlich berührt, als er merkte, wie sehr wir uns freuten, dass er bei uns mitspielt.
Was möchten Sie Ihrem Publikum bieten?
Ich möchte mit einer leichten Geschichte unterhalten, die durchaus ernste Dinge erzählt und von einer eher untypischen Begegnung, die trotzdem viele Menschen berührt. Ich hoffe, dass die Zuschauer nach dem Film Lust bekommen, sich zu verlieben und anderen Menschen vorurteilsfrei zu begegnen. Jeder von uns war mal in seinem Leben Alice oder Victor. Ich glaube, ich bin deshalb ein so großer Fan des Kinos, weil es mir Dinge zeigt, die ich nicht selbst erlebe – und mir gleichzeitig Lust macht, diese zu erleben.

25.08.2022 | mz | Quelle: Senator Film
Kategorien: Magazin