Stuttgart 1960 – als der Choreograph John Cranko mit dem Flugzeug landet, ahnt er nicht, dass dieser Moment sein Leben verändern wird. Er soll am Stuttgarter Ballett als Gast choreographieren. In London, wo er aufgrund seiner Homosexualität zahlreiche Demütigungen bis hin zu einem Arbeitsverbot ertragen musste, hält ihn nichts mehr.
In der beschaulichen Stadt erholt er sich von den erniedrigenden Erfahrungen. Niemand scheint sich an seinem unkonventionellen Lebensstil zu stören. Er wird nach kurzer Zeit Ballettdirektor, Liebling des Publikums, gibt sich seiner Kunst und einem berauschenden Lebensstil hin, hat Affären, durchleidet private Rückschläge und tiefe Krisen, führt sein Büro in der Theater-Kantine und bezeichnet seine Ballettruppe als „seine Kinder“.
Der rasante und steile Aufstieg bis zur Weltspitze, das „Stuttgarter Ballettwunder“, machen John Cranko zu einem Superstar seiner Zeit. Angetrieben von der Besessenheit und Leidenschaft für seine Arbeit ist er stets auf der Suche nach Perfektion. Am Höhepunkt seiner Karriere stirbt er (unerwartet und viel zu jung) auf dem Rückflug von einer Tournee aus den USA, inmitten seiner Ballettgruppe.
»Es ist wie du sagst: Ein Kritiker ist wie ein Eunuch. Er weiß, wie es geht, er kann es nur nicht.«
Marcia Haydée
Regisseur Joachim A. Lang hat einen wahrhaftigen Ballettfilm gedreht, der die Tiefe und Emotionalität des Balletts ergründet und den es in dieser Art bisher noch nicht gegeben hat. In berauschenden Tanzszenen verschmelzen das fragile Seelenleben und die visionäre Kraft des Ausnahmechoreographen John Cranko zu melancholischen Szenen voller Zartheit. Sie stehen im Kontrast zu der rauen Wirklichkeit und den gesellschaftlichen Zwängen der 60er und frühen 70er Jahre, die Cranko selbst erlebte – die Apartheid in Südafrika, die Verfolgung aufgrund seiner Homosexualität.
Sam Riley verkörpert John Cranko mit tiefgründiger Authentizität, zeigt die verletzliche und gleichzeitig bedingungslos perfektionistische und visionäre Kraft des Ausnahmechoreographen, raucht immer und überall und trinkt, liebt und leidet. Dabei verschmelzen Film und Ballett, immer wenn er eine Vision hat.
John Crankos Motto war, dass seine Ballettfiguren nicht nur schön getanzt, sondern auch dessen Gefühle verinnerlicht und gezeigt werden sollen. Ein besonderer Besetzungscoup gelang mit dem Engagement der heutigen Weltstars des Stuttgarter Balletts, die ihre Vorbilder von damals nicht nur tanzen, sondern auch spielen!
Der mehrfach ausgezeichnete Kamerachef Philipp Sichler fängt die komplexen Tanzszenen und Choreographien mit der Kamera ein, umkreist, hält drauf, tanzt mit, im steten Wechsel zwischen intensiven Nahaufnahmen und die gesamte Bühne umfassenden Totalen. In den Momenten des persönlichen Zusammenbruchs und der Trauer entstehen ergreifende Momente der Nähe und Intimität. Das stete Wechselspiel von John Crankos emotioneller Verfassung wird so im Bild spürbar.
🩰
Cranko ist nicht nur ein Ballettfilm für Liebhaber. Bereits während seiner Fahrt vom Flughafen zum Hotel erzählt der Choreograf dem Taxifahrer, der so gar nichts mit Ballett am Hut hat, von seiner Vorstellung von Ballett und macht ihm (und damit auch uns) neugierig auf die kommenden zwei Stunden. Er lädt ihn ein, sein Ballett wenigstens mal anzusehen.
Dank der Tänzerinnen und Tänzer des renommierten Stuttgarter Balletts wird der Film zu einer gefühlsmäßigen Sache, die nicht nur den Taxifahrer zu Tränen rührte. Doch während das Genie mit seinen Choreografien Erfolge feierte, hatte der private John Cranko kein Glück mit Beziehungen. Besonders skurril war da der LKW-Fahrer Kai, der so richtig wie eine Comicfigur wirkte, der einfach nur rummachen wollte und gar nichts mit Ballett anfangen konnte.
Sam Riley überzeugt vor allem in seiner Gesamtdarbietung als Exil-Südafrikaner und Exil-Brite, der mit seinem keineswegs akzentfreien, aber dennoch immerhin inzwischen sehr verständlichen Deutsch zu John Cranko wird.
Der Film ist unerwartet schön anzusehen. Und wenn man bislang noch nicht viel über Ballett wusste, bekommt man hier zumindest einen Einblick in das Choreografieren und ist hinterher ein wenig aufgeklärter. Und wer nicht genug bekommen kann, der kann sich hinterher noch die Videoscheiben der Original-Darbietungen des Stuttgarter Balletts besorgen…