Freitag, 26. April 2024
Ma, Buddy, Will und Pa
📷 Rob Youngson - © Focus Features, LLC
Sommer 1969 in der nordirischen Hauptstadt. Der neunjährige Buddy, Sohn einer typischen Familie aus der Arbeiterklasse, liebt Kinobesuche, Western, Star Trek, Matchbox-Autos und seine hingebungsvollen Großeltern. Außerdem schwärmt er für eine seiner Mitschülerinnen. Doch als die gesellschaftspolitischen Spannungen in Belfast eskalieren, und es sogar in der sonst so harmonischen Nachbarschaft zu Gewaltausbrüchen kommt, findet seine idyllische Kindheit ein jähes Ende.
Und während sein in England arbeitender Vater und seine besorgte Mutter die Zukunft der Familie zu sichern versuchen, bleibt Buddy nichts anderes übrig, als langsam erwachsen zu werden, und trotzdem die Lebensfreude, das Lachen und seine von Film und Fernsehen beflügelte Fantasie nicht zu verlieren.
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    »If you can't be good, be careful!«
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»Belfast ist eine Stadt der Geschichten«, sagt Kenneth Branagh. »Die späten 1960er-Jahre waren dort turbulente, sehr dramatische und manchmal auch gewalttätige Zeiten – und meine Familie und ich mittendrin. Ich brauchte fünfzig Jahre, um eine angemessene Weise zu finden, darüber zu schreiben und den passenden Ton zu treffen, der mir vorschwebte.
Manchmal dauert es einfach lange, um zu verstehen, wie einfach die Sache sein kann, aber die Jahre des Abstands helfen auch dabei, die richtige Perspektive und den geeigneten Fokus zu finden. Die Geschichte meiner Kindheit, die als Inspiration für diesen Films diente, wurde zu einer Geschichte über jenen Punkt im Leben von uns allen, wenn ein Kind erwachsen wird und das Leben seine Unschuld verliert. In Belfast 1969 wurde diese Entwicklung für mich beschleunigt durch den Tumult, der uns alle umgab.«
Auf Grund der Corona-Pandemie hatte der Filmemacher Zeit, in sich zu gehen und sich an seine Kindheit zu erinnern. Die Idee zu Belfast kam ihm während des ersten Lockdowns 2020: »Während die Geschichte in mir aufkeimte, ging mir auf, dass es darin nicht nur um eine für praktisch jeden wiedererkennbare kleine Familieneinheit geht, die in einer stressigen Situation vor einigen riesigen Lebensentscheidungen steht.
Sondern sie erzählt auch von einer anderen, sehr besonderen Art des Lockdowns, innerhalb der Barrikaden am Ende unserer Straße 1969 und innerhalb der wachsenden Zwänge, denen sich die Familie ausgesetzt sieht, während sie mit der Entscheidung ringt, ob sie bleiben oder gehen soll. Einige der Umstände jener Zeit spiegeln sich also wider in dem, was uns nun im Kontext der Pandemie umtrieb, vom Gefühl des Eingesperrtseins bis hin zu den Sorgen um das eigene Wohlbefinden und das der Familie.
Beim Versuch, die richtigen Worte für seine Herangehensweise an die Geschichte zu finden, fand Kenneth Branagh Gefallen an der Art, wie Pedro Almodóvar seinen Film Leid und Herrlichkeit beschrieb: »Er verwendete den Ausdruck Auto-Fiktion. Das Drehbuch basierte auf seinem eigenen Leben, das er aber natürlich auch fiktionalisierte. Genau das Gleiche habe ich auch getan. Ich habe die Geschichte größtenteils aus den Augen dieses Jungen namens Buddy geschrieben, der eine fiktionalisierte Version meiner Selbst ist.
Er beginnt, seine Erfahrungen im Spiegel der Filme und Serien, die er guckt, zu filtern. Diese Bilder von der großen Leinwand und dem Bildschirm hatten enormen Einfluss auf die Entwicklung meiner Vorstellungskraft, und mir war es wichtig zu zeigen, dass es Buddy genauso geht. Er liebt Western. Und weil Belfast damals tatsächlich ein bisschen was von einer Westernstadt hatte, kam es mir manchmal fast so vor, als würde ich einen Western schreiben, der Buddys Kopf entsprungen ist.«
So baute er auch das Thema aus 12 Uhr mittags ein, als es am Ende zum Duell seines Vaters mit dem Rädelsführer Billy Clanton kommt. Da passt das Schwarz-Weiß-Format wie die Faust aufs Auge. »Ich bin mit Schwarz-Weiß- und Farbfilmen gleichermaßen aufgewachsen«, sagt Kenneth Branagh. »Dabei gab es auch das, was ich später als „Hollywood-Schwarz-Weiß“ kannte – samt-seidig glänzende Schwarz-Weiß-Bilder, in denen jeder und alles automatisch glamouröser aussah. Genau diesen Look wollte ich nun auch für meinen Film. Schließlich wirken auf einen Neunjährigen die eigenen Eltern bisweilen sehr glamourös. Außerdem konnte dadurch alles irgendwie überlebensgroß wirken.«
Dabei spielt der Regisseur auch mit den Formaten. Während der Film in Farbe mit einer Kamerafahrt durch das Belfast von heute beginnt, fliegt die Kamera dann plötzlich über eine Mauer und blendet das Datum ein, während vor der Mauer die Farbe und hinter der Mauer Schwarz-Weiß herrscht. Auch bei seiner Liebe zum Schauspiel lässt er Farbe auf Schwarz-Weiß treffen. So sieht die Familie Farbfilme im Kino, während sich die Farbe in der Schwarz-Weiß-Brille der Oma spiegelt. Auch das Theaterstück „A Christmas Carol“ ist in Farbe zu sehen – mit dem Schauspieler John Sessions in der Rolle des Marley, der hier in seiner letzten Rolle zu sehen ist.
Kein Aufwand war dem Filmemacher zu groß, seine Kindheit wiederaufleben zu lassen: »Natürlich drehten wir auch vor Ort in Belfast, doch wegen der Pandemie war es uns nicht möglich, eine komplette echte Straße in Beschlag zu nehmen und die Menschen zu bitten, für eine Weile aus ihren Häusern auszuziehen. Aber wir fanden eine große freie Fläche am Farnborough Airport im englischen Hampshire, wo wir einen ganzen Straßenzug bauen konnten. Es erscheint verrückt, dass wir unsere Kulissen am Ende einer Start- und Landebahn eines kleinen internationalen Flughafens errichteten, der durchaus noch in Betrieb war. Aber es funktionierte bestens. Außerdem konnten wir eine nahegelegene leere Schule für etliche Krankenhaus- und Schulszenen nutzen.«
Ursprünglich war vorgesehen, dass Belfast einen Soundtrack voll populärer Lieder bekommt, die Ende der 1960er Jahre in den Charts zu finden waren. Doch nachdem der Regisseur Kontakt zu Van Morrison aufgenommen hatte, rückte die Musik des aus Belfast stammenden Künstlers immer weiter in den Vordergrund. Letzten Endes besteht die Tonspur nun fast ausschließlich aus Musik von ihm: Neben acht Liedern, die er aus seinem Archiv zur Verfügung stellte, schrieb er eigens ein neues Lied für den Film. Hinzu kam außerdem ein wenig eindringliche instrumentale Musik, die sich zwar etwas unpassend elektronisch anhörte, aber dennoch passte.

Auch was die Darsteller angeht, achtete Kenneth Branagh auf Authentizität: »Caitríona Balfe, die Ma spielt, stammt aus Irland, aber sie ist nahe der Grenze aufgewachsen und versteht nicht nur den Dialekt, sondern kennt auch den Alltag irischer Großfamilien.« Seriengucker kennen sie in erster Linie als „Sassenach“ Claire Randall aus der Serie Outlander. Man bemerkt in ihrem Spiel nicht nur ihre Herkunft, auch die Liebe zu ihren Filmsöhnen, weshalb man sich auch irgendwie an die eigene Mutter erinnert oder sie gern als Mutter gehabt hätte.
»Jamie Dornan, dem ich die Rolle des Pa gab, ist ein echter Belfaster Junge, der in einem Vorort der Stadt aufgewachsen ist. Und Ciarán Hinds, der Buddys Großvater Pop spielt, lebte kaum eine Meile entfernt von meinem Zuhause in Belfast«, berichtet der Regisseur und Drehbuchautor. »Selbst Judi Dench hat irische Wurzeln, schließlich stammt ihre Mutter aus Dublin. Abgesehen davon ist sie natürlich eine absolute Vollblutschauspielerin, deren Recherche stets akribisch ist, und die alles spielen kann. Insgesamt hatte diese Gruppe von Schauspielern eine Energie, die mir extrem gut gefiel – eine Offenheit und Extrovertiertheit im Umgang miteinander, die dazu führten, dass sie sehr schnell zu einer echten Familie wurden.«
Mit Belfast als Drehort bot sich für Branagh darüber hinaus natürlich auch die Gelegenheit, mit einigen exzellenten nordirischen Schauspielern wie Colin Morgan, Turlough Convery und Conor MacNeill zusammenzuarbeiten. Zudem ließ er es sich auch nicht nehmen, seine Schwester Joyce und seinen Bruder Bill in dieses persönliche Werk in kleinen Rollen einzubinden.
Zum ersten Mal zu sehen ist Hauptdarsteller Jude Hill, der eine hervorragende erste Darstellung ablieferte. »Mir hat das so viel Spaß gemacht«, schwärmt der Junge. »Früher wollte ich eigentlich Softwareentwickler werden. Aber jetzt träume ich davon, Schauspieler zu sein, wenn ich groß bin.« Ebenso stand als dessen Filmschwarm Catherine erstmals Olive Tennant vor der Kamera, die Tochter von Schauspieler David Tennant. Im Film sieht Buddy nicht nur Star Trek im TV, sondern trägt auch ein Thunderbirds-Kostüm. Da liegt es nicht allzu weit entfernt, dass da jemand auch ein Doctor Who-Fan sein könnte…
Alles in allem ist Belfast eine ergreifende und schöne Erwachsen-werd-Geschichte mit geschichtlichem Hintergrund und autobiografischen Einflüssen, die nicht umsonst für den Oscar® nominiert ist. Neben den Schauspielern bestechen natürlich auch die Sets und Kostüme, bei denen man die Hingabe der Beteiligten spürt. Zusammen mit der schwungvollen und melancholischen Filmmusik ist Belfast eine durchaus unterhaltsame Kindheitserinnerung, zu der am Ende auch Taschentücher benötigt werden.

03.12.2022 | mz
Kategorien: Filme