Dienstag, 19. März 2024
The Legend behind the Rainbow
Fünf ausverkaufte Konzertwochen in Swinging London! Die britische Hauptstadt fiebert im Winter 1968 den Auftritten von Showlegende Judy Garland im prominenten West-End-Theater „The Talk of the Town“ entgegen. Die Premiere des Filmklassikers Der Zauberer von Oz, durch den sie weltberühmt wurde, ist bereits 30 Jahre her und ihre Stimme mag ein wenig an Strahlkraft verloren haben – aber auf ihre Gabe für dramatische Inszenierungen kann sie noch immer zählen.
Und auch ihr feiner Sinn für Humor und ihre Herzenswärme zeichnen sie wie keine andere aus, bei den Vorbereitungen der Show, bei Begegnungen mit Freunden und treu ergebenen Fans ebenso wie in den Auseinandersetzungen mit dem Management. Selbst ihr Traum von der einen großen Liebe scheint nach vier Ehen noch immer ungebrochen. Und so stürzt sie sich in eine wilde Romanze mit Mickey Deans, ihrem zukünftigen fünften Gatten…
»Do you take anything for depression?«
Dr. Hargreaves
»Four husbands. Didn’t work.«
Judy Garland
1969 hatte Judy Garland seit über 40 Jahren auf der Bühne wie auf der Leinwand ganze Generationen verzaubert – vor allem mit ihrer unglaublichen Stimme. »Ich zähle zu den zig Millionen Fans, die Judy begeistert hat«, sagt Renée Zellweger, die die Ikone preisverdächtig verkörpert. »Sie gilt als die größte Entertainerin aller Zeiten und wird heute noch geliebt.«
Vom Ruhm und Vermögen des Kinderstars der 30er und Hollywood-Diva der 40er und 50er Jahre war 1969 jedoch nicht viel übrig geblieben. Wegen ihrer Drogenprobleme galt sie als labil und unzuverlässig, die Engagements blieben aus. Judy Garland hatte hohe Schulden und sogar ihr Haus verloren, als ein lukratives Angebot aus London kam: Sie sollte fünf Wochen in Bernard Delfonts schickem Cabaret und Nachtclub „The Talk of the Town“ singen.
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Für Judy war London der letzte Strohhalm, erklärt Drehbuchautor Tom Edge: »In London war Judy noch in bester Erinnerung, ihr Ruf war ihr noch nicht vorausgeeilt. Hier bot sich Judy also eine Gelegenheit, sich selbst und allen anderen zu beweisen, dass sie es noch drauf hat.«
Rosalyn Wilder wurde damals als „Aufpasserin“ für den Star aus den USA engagiert und erinnert sich an das „Swinging London“, das sich in den „Sixties“ zum kulturellen Mekka gemausert hatte: »Restaurants, Entertainment, Mode – plötzlich gab es alles. Die Leute hatten Geld und verlangten nach Unterhaltung, sie wollten ausgehen, sehen und gesehen werden.«
Dieser Ära widmet sich Peter Quilter in seinem erfolgreichen Stück „End of the Rainbow“, das Produzent David Livingstone zu dem Film inspirierte. Er erwarb die Rechte und beauftragte den preisgekrönten Autor Tom Edge mit einer Adaption, die Ikone Judy Garland noch stärker in den Mittelpunkt rücken sollte. »Ich wusste nicht viel über Judy Garland, außer den üblichen Klischees«, erzählt der Drehbuchautor.
»Dann sah ich mir TV-Interviews aus den 1960ern an und erkannte schnell, wie warmherzig, scharfsinnig und selbstkritisch diese Frau war. Sie wusste ganz genau, was die Leute von ihr dachten, und spielte damit. Beim Schreiben habe ich versucht, meine eigene Judy Garland zu finden. Das war durchaus eine Herausforderung.«
So erweiterte er die eigentliche Handlung in London um Rückblenden in die Vergangenheit, damit man die Judy der Sechziger besser versteht. Der Autor wollte die Unterhalterin aber auf keinen Fall als Opfer darstellen. Vielmehr war sie ein Stehaufmännchen und gab niemals auf. Genau dafür wurde und wird Judy Garland von Legionen Fans verehrt, dem sollte das Drehbuch Rechnung tragen.
Allerdings werden uns die Rückblenden immer wieder vorgehalten, was ihre Flucht in die Sucht immer wieder unterstreicht. Allein die Darstellung dieser Frau, die Renée Zellweger so grandios auf die Leinwand bringt, zeugt von einem Leben am Rande des Zusammenbruchs. Da hätte man sich die wiederholenden Rückblenden getrost sparen können.
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Dass Judy kein typisches Von-bis-Biopic werden sollte, überzeugte auch die Hauptdarstellerin: »Wir konzentrieren uns auf einen Aspekt, der bei dieser Lebens-übergroßen-Persönlichkeit selten berücksichtigt wird: nämlich was ihre Kunst sie gekostet hat. Zu dieser Zeit musste Judy arbeiten, um Geld zu verdienen. Dabei hätte sie sich eigentlich schonen müssen. Letztlich zerstört sie ihr größtes Kapital, ihre kostbare Stimme, damit sie für ihre Kinder sorgen kann.«
Aber nicht nur die innerlich zerbrochene Person konnte Renée Zellweger verkörpern. Ein ganz besonderes Schmankerl ist ihre Interpretation der Showtunes des Megastars. Zwar hatte sie bereits in Filmen wie Chicago oder Down with Love gesungen, diesmal war ihre Verantwortung um einiges höher, denn sie musste eine reale Figur verkörpern.
»Es ging nie darum, Judy Garland zu imitieren. Ihre Stimme war sowieso einzigartig«, erläutert der musikalische Leiter Matt Dunkley. »Renées Stimme ist höher – eine sogenannte Kopfstimme. Judy hatte zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens eine sehr tiefe Stimme, die aus dem Brustkorb kam. Also haben wir mit Renée an diesem Gesangsstil gearbeitet. Und sie hat einen fabelhaften Job gemacht.«
Schon im Drehbuch waren für jeden Liveauftritt konkrete Songs vorgesehen, um verschiedene Stimmungen zu transportieren. Den größten Hit hob sich Tom Edge bis zuletzt auf: »Judys Konzerte im „The Talk of the Town“ endeten in der Regel mit „Somewhere over the Rainbow“. Das war ihre Hymne – der berühmteste Song ihrer Karriere, seit sie ihn in Der Zauberer von Oz zum ersten Mal gesungen hatte.«
»Bei diesem Lied wollten wir gern eine wahre Begebenheit einbauen – obwohl sie sich nicht im „The Talk of the Town“ ereignet hat«, erzählt er weiter. »Als Judys Stimme versagte und sie nicht weitersingen konnte, sang das Publikum für sie „Somewhere over the Rainbow“. Das war einer jener Momente, in denen Garland, die den Fans ihr Leben lang so viel gegeben hat, etwas zurückbekam.«
Und Renée Zellweger schenkte dem gesamten Team, bis hin zu den Statisten im Saal, ein unvergessliches Erlebnis. »Wenn jemand einen solchen Hit anstimmt, hält das Publikum geschlossen den Atem an«, sagt Regisseur Rupert Goold. »Renée setzt also an – umwerfend. Dann bricht ihre Stimme und das Publikum muss das Lied für sie zuende bringen… Wir hatten bei diesem Film besonderes Glück mit unseren Komparsen – eine tolle Ansammlung von rund 300 Personen in elegantem Sixties-Stil. Renée muss wahnsinniges Lampenfieber gehabt haben, als sie vor so vielen Leuten auf diese große Bühne musste. Aber wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie die Leute im Zuschauerraum weinen. Das war auch noch beim dritten oder vierten Take so.«
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Zwei kleine, aber wichtige Rollen waren Stan und Dan, die im Film Judys treue Fangemeinde, insbesondere in der LGBTQ-Szene, repräsentieren. Das Duo ist zwar erfunden, doch es kam durchaus vor, dass Judy allein ausging und in den West-End-Bars Bekanntschaften schloss. Und trotzdem diese Figuren erfunden sind, kommt mir die Geschichte mit Judy Garland in der Küche eines schwulen Pärchens irgendwie bekannt vor.
»Stan und Dan waren Toms brillante Idee«, berichtet Rupert Goold. »Wir hatten überlegt, wie wir Judys Zeit in London ausschmücken könnten. Außerdem wollten wir sie auch aus der Sicht ihres Publikums zeigen. Schwule konnten damals kein normales Leben führen. Das ist eine interessante Parallele zu Garland, die sich so verzweifelt um Normalität für sich und ihre Kinder bemühte. Ich habe mit Akademikern über diesen Aspekt gesprochen: Spätestens nach den Stonewall-Unruhen 1969 wurde die Bezeichnung „Friends of Dorothy“ zum Synonym für die diskriminierte LGBT-Gemeinde.«
»Stan und Dan sind definitiv ein Höhepunkt des Films: Sie sorgen für Humor, Gefühl und einen Hauch Magie«, findet Produzent David Livingstone. »Durch die beiden verstehen wir besser, warum Judy eine solche Ikone ist und was ihr die Liebe ihrer Fans bedeutete.« Andy Nyman, der Dan spielt, kennt man aus zahlreichen Filmen und Serien. Zuletzt war er in der Serienadaption von Hanna zu sehen und ist mit Liam Neeson durch New York gependelt.
Aber auch die größeren Nebenrollen sind prominent besetzt. Rufus Sewell spielt Judys Ex-Mann Sidney Luft, Vater ihrer Kinder Lorna und Joey. »Es ist schon lange her, dass mich ein Skript so gepackt hat – auch emotional«, so der Brite. »Beim Lesen lief vor meinem inneren Auge schon der Film. Natürlich habe ich sofort zugesagt. Sid denkt nur an das Wohl seiner Kinder. Denn trotz ihrer Liebenswürdigkeit und allem, was so fabelhaft an ihr war, war Judy als Mutter überfordert.« Schwerfallen durfte die Rolle für ihn nicht, hat er doch eine ähnliche Rolle in der Serie The Man in the High Castle gespielt – dort aber in der umgekehrten Position des vielbeschäftigten Vaters.
Als Assistentin Rosalyn Wilder wurde Jessie Buckley besetzt, die erst im Dezember als Countrysängerin in dem Film Wild Rose im Kino zu sehen war. Dass sie die echte Rosalyn Wilder persönlich kennenlernte konnte, war für sie natürlich ein Geschenk: »Wir trafen uns zum Tee und ich löcherte sie mit Fragen, um jedes Detail zu erfahren. Rosalyn hat übrigens die perfektesten Fingernägel der Welt. Also bin ich erst mal los, Nagellack besorgen! Es war spannend, mit Rosalyn über Judy zu sprechen. Sie bedauert, dass sie ihr damals nicht helfen konnte. Das hätte quasi gegen die Etikette verstoßen.«
Der Londoner Impresario Bernard Delfont wird von Sir Michael Gambon verkörpert. »Ich verehre Michael«, schwärmt Rupert Goold. »Er ist ein sehr zurückhaltender, ruhiger Typ, strahlt dabei aber so viel Autorität, Würde und Wohlwollen aus.« Auch Finn Wittrock, der Judys fünften Ehemann, Mickey Deans, spielt, ist kein Unbekannter. Er war schon in einigen prämierten Produktionen zu sehen – so z.B. in The Big Short, La La Land oder im letztjährigen Beale Street.
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Judy besticht durch die Interpretation von Oscar®-Preisträgerin Renée Zellweger, die sich nach jahrelanger Zurückhaltung endlich wieder in der Oberliga Hollywoods zurückmeldet. Auch die Rückblenden ans Set von Der Zauberer von Oz, in der Darci Shaw die junge Judy spielte, waren ganz nett, auch wenn MGM-Boss Louis B. Mayer als böser Onkeldargestellt wird, der auch gerne mal seine Macht ausnutzt und Hand an seine Stars legt. Teilweise erinnert der Film auch an Film Stars don’t die in Liverpool, der eine ähnliche Geschichte erzählt, aber weitaus deprimierender wirkt.
Judy Garland starb vor 50 Jahren. Und Der Zauberer von Oz, der Film, der sie über Nacht berühmt machte, kam vor 80 Jahren in die Kinos. Doch Judys Geschichte ist nach wie vor relevant, gerade in Zeiten von #metoo. »Ich hoffe, dass die Zuschauer besser verstehen, was Judy für ein Mensch war und was sie durchgemacht hat«, so Darci Shaw.
Für Jessie Buckley steht Judy Garlands musikalisches Vermächtnis im Vordergrund: »Sie hat ihr Innerstes nach außen gekehrt. Sie wollte die Menschen mit ihrem Gesang berühren und ihnen Hoffnung geben. Deshalb wollten die Leute sie sehen. Wenn ein Künstler auf der Bühne so nahbar, so menschlich ist, dann entsteht Magie.«

11.12.2023 | mz
Kategorien: Feature | Filme